Joey Goebel - "Vincent" | Ein kritischer Roman über die Kunstindustrie

22 Juni 2016

Wirklich gute Kunst kann nur von unglücklichen Menschen stammen. Warum also nicht mit einer Organisation nachhelfen, die Künstlern dauerhaft Unglück beschert? Denn an Kunst möchte ja schließlich was verdient werden. - Ein Ansatz dem der Autor Joey Goebel in seinem Roman "Vincent" nachgeht. Wie er das macht und wie ich das Ganze fand, davon möchte ich, Katharina, euch heute erzählen. :)
 

Konstrukt und Aufbau

Dreh- und Angelpunkt des Romans bildet die New Renaissance Academy, eine Schule für künstlerisch begabte Kinder und Jugendliche. Ein global agierender Medienkonzern steht hinter dieser Schule, der für den Vertrieb und Verkauf der Kunst verantwortlich ist. Jedem Schüler ist ein Manager zugeteilt, der für ihn als Mentor gilt, aber auch die geheime Doppelrolle trägt dessen Privatleben so zu lenken, dass ihm Leid und Kummer widerfährt. Alle Eltern wiederum unterschrieben einen entsprechenden Vertrag mit Verschwiegenheitsklausel und werden finanziell entschädigt. Die Schüler selbst werden von dieser Abmachung nie etwas erfahren. Alles in allem eine skrupellosen Welt, die im Roman skizziert wird.

Das Buch ist in den USA der Gegenwart angesiedelt. Es ist in drei Teile geteilt. Teil 1 begleitet die erste Jahre von Vincent, dem Künstler, und Harlan, seinem Manager, bis Vincent mit sechs Jahren in die Akademie kommt. Der zweite Teil begleitet Vincent während seiner Zeit in der Akademie bis er 18 Jahre alt ist, der dritte beinhaltet die Zeit nach seinem Abschluss.

Jedes Kapitel trägt als Titel einen Frauennamen. Das fand ich sehr interessant. Erst denkt man, wird hier eines der typischen Klischees bedient, dass nur Frauen Männer unglücklich machen können? Tatsächlich geht es dann jeweils um eine Frau, die Vincents Leben beeinflusst auch aus dem familiären Bereich. 


Themen

In der Welt der Manager gilt: Ist ein Künstler glücklich, dann produziert er keine oder nur sehr minderwertige Kunst. Die These also: Kunst entsteht aus einem Leidensdruck heraus. Von Glück wird der Künstler abgelenkt - will verständlicherweise diese Momente genießen, sich in ihnen verlieren - und wird damit kommerziell uninteressant. So werden im Roman die meisten negativen Dinge, die Vincent erlebt, dessen Talent im Bereich Musik und Texten für verschiedene Formate liegt, von seinem Manager Harlan mit Geld eingefädelt. Freundinnen werden bestochen Schluss zu machen, Ärzte bekommen Geld, um falsche Diagnosen zu erstellen etc.
 
Der (Massen-)Kunst-Markt, die Marketingmaschinerie, Hollywood, alle funktionieren im Buch wie so oft in der Realität auch nach folgendem Muster: Sei jung, sei hübsch, unterhalte die Leute, dann schaffst du es ins Rampenlicht. Ein unscheinbarer, schlaksiger Vincent schafft das nicht, will aber auch nicht im Rampenlicht stehen und verdient dennoch an den Verkäufen und Tantiemen riesige Summen und ist damit zufrieden. Vincent erlebt im Roman einige berufliche Höhen und vor allem private Tiefen, erfährt Geldgier von Manager- und Produzentenseite, Ignoranz von Sängern und Schauspielern, eine gewissen Blindheit des Publikums gegenüber Qualität und neuen Formaten. Vincent macht dank des Managers Harlan Karriere, bezahlt dafür aber auch den Preis, den seine Mutter vereinbart hat.


Meine Einschätzung

Eine innovative Idee und in der Konstruktion eine gelungene Umsetzung! Warum bitte ist da vorher noch keiner drauf gekommen?! Das Buch zeigt die dunkle Seite der Kunstindustrie und wie  sich künstlerische Lebenswege durch äußere Lenkung ändern können. Ein Bild, das meiner Meinung nach häufig auf Massenmedien und in großen Teilen auf Hollywood zutrifft.
 
Ich hatte im Vorhinein die Erwartung an das Buch etwas über die seelischen Abgründe und Selbstzweifel sowohl der Künstler als auch der Menschen hinter der skrupellosen Organisation zu erfahren. Immerhin steckt hinter der Idee der New Renaissance Academy und dem Manager-Stab ja doch in irgendeiner Form eine soziale, samariterische Idee, den Menschen qualitativ hochwertige Kunst anbieten zu können - was nebenbei bemerkt in der Welt des Buches auch in Teilen gelingt.
 
In Bezug auf diese Erwartung hat mich das Buch leider enttäuscht. Es ging mir einfach nicht tief genug in die zwischenmenschliche Ebene hinein, es hat mich nicht berührt. Meiner Meinung nach ist die Ursache dafür die Erzählperspektive, denn der Erzähler ist der Manager Harlan. Er hat irgendwie Gewissensbisse, aber irgendwie auch nicht. Von seinem Hin-und-hergerissen-Sein erfährt man nichts. Unterm Strich bleibt er eine eher glatte Figur. Auch Vincent bleibt durch Harlans Augen ein Stück weit unnahbar, Erlebnisse in seinem Leben werden eher knapp benannt als wirklich deren Entstehung und Verlauf beschrieben,  z.B. wenn er sich verliebt. Man könnte vermuten, dass der Erzählblick von Harlan auf die Welt seiner glatten, skrupellosen Seite als Manager entspricht, der es gelernt hat einen Großteil seines Mitgefühls auszublenden und auf dieser Art eben auch auf Vincent blickt. So gesehen eine konsequente Umsetzung des Autors. Dadurch wird meiner Meinung nach aber eben auch ein Stück weit verhindert, dass man als Leser mit den Figuren warm wird.
 
Joey Goebel schreibt für mich in "Vincent" aus der Perspektive von jemandem, der in erster Linie seine Erfahrungen mit Plattenlabels, Verlagen oder Filmproduktionen wiedergibt und weiterspinnt. Er spürt allgemeinen Strukturen und Ursachen im Kunstmarkt hinterher, die am Qualitätsverfall von Kunst mit schuld sind. Er schafft es dabei auch die typischen Szenarien und Figuren zu skizzieren, die man aus Filmen, Erzählungen oder Reportagen aus dieser Welt im Hinterkopf hat.
 
Das Ende des Buches war für mich persönlich etwas unbefriedigend. In der Schlussszene geht es um das Wiedersehen von Harlan und Vincent. In diesem Zusammentreffen gibt es keinen allzu kritischen Rückblick auf die gemeinsame Zeit oder die Kunstindustrie an sich. Das hätte ich an der Stelle schon ein Stück weit erwartet. Stattdessen geht es um die persönliche Weiterentwicklung von Vincent jenseits der Academy, was spannend ist, aber einen etwas unversöhnt zurücklässt.


Fazit

Für mich ist es trotz des markt- und sozialkritischen Themas ein sehr leichtes Buch.  Die Erzählstränge sind einfach, stringent und in sich abgeschlossen, so dass es für punktuelle Leser, die das Buch in größeren Abständen lesen, sehr geeignet ist. Für meinen Geschmack kam die Gefühlsebene ein wenig zu kurz. Kurzum: Ein Buch mit einem relevanten Thema, das innovativ umgesetzt wurde. Durch die spärliche Beschreibung des Innenlebens der Figuren lässt es den Leser leider ein Stück außen vor.
 
Darum vergebe ich vier von fünf Sternen.

★ ★ ★ ★
 
Kennt ihr das Buch oder den Autor? Wie findet ihr dieses Thema?
 
Eure Katharina
 

8 Kommentare:

  1. Liebe Katharina,
    wow, an und für sich ein super spannendes Thema! Ich kann das gut nachvollziehen, dass erfolgreiche Künstler oft eins an der Klatsche haben oder depressiv sind. Wenn ich die großen Künstler anschaue, dann hatten doch viele irgendwelche krassen Wesenszüge. Ich selbst betätige mich in meiner Freizeit auch gerne künstlerisch und interessanterweise kann ich mich dahingehend am besten ausleben, wenn ich gerade eine Tiefphase durchlebe. Mein Blog ist übrigens in einer der größten Tiefphasen meines Lebens entstanden ;-) Auf der anderen Seite entstehen viele gute Ideen bei mir, wenn ich keinen Druck habe und meine Gedanken vollkommen entspannen können. Gerade was Fotos betrifft, bringen mir die guten Phasen in meinem Leben Vorteile.
    Wie du schreibst, würde ich aber auf emotionaler Ebene auch einiges erwarten. Schade, dass das Buch in dieser Hinsicht zu oberflächlich bleibt. Die Story an sich finde ich nämlich total interessant.
    Viele liebe Grüße und ein schönes Wochenende :-*
    Jasmin

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    1. Liebe Jasmin,

      wow - vielen, lieben Dank für deinen so ausführlichen und tiefgreifenden Kommentar! <3

      Viele Studien belegen ja, dass der Kunstmarkt viel stärker Exzentriker anzieht, die nicht selten eine entsprechende psychische Störung haben. Verallgemeinern sollte man das natürlich nicht. ;) Dennoch ist es ja so, dass man in der Kunst sehr viel Persönliches preisgibt und man dementsprechend "viel" in sich tragen muss, was man ausdrücken kann/möchte/muss.

      Das mit deinem Blog ist sehr spannend. Tatsächlich gibt es auch nichts Besseres für mich, als wenn es mir nicht gutgeht, mich zurückzuziehen. In akuten dunklen Phasen bringe ich nichts zustande, aber im Nachhinein, wenn alles verarbeitet und sortiert ist, setzt man dann so tolle Dinge um. Und so entsteht aus etwas Schlechtem etwas Gutes, was vielen hilft sich auch gut zu fühlen. :)

      Alles Liebe! <3
      Katharina

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  2. Liebe Katharina,
    vielen Dank für die tolle Besprechung. Die Idee hört sich sehr interessant an, wenn auch psychisch ziemlich hart. Das Kunst viel zu sehr vom Marketing und Kommerz abhängt ist sicher richtig. Heute würde sich sicher manch einer ein Ohr abschneiden, wenn er damit berühmt würde ;). Aber gezielt in das Leben von Kindern einzugreifen ist doch etwas viel. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob die Ausgangsthese stimmt, das nur unglückliche Künstler gute Künstler sind. Auf alle Fälle hast du ein sehr interessantes Buch vorgestellt.

    Alles Liebe
    Gisela von Die Vorleser ♥

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    1. Hallo Gisela,

      vielen Dank für deinen Kommentar!

      Die Ausgangsthese des Buches halte ich auch für kritisch. Nichtsdestotrotz belegen viele Psychologen, dass gerade der Entertainer-Bereich überproportional viele Menschen mit Persönlichkeitsstörungen - und damit häufig auch unglückliche - anzieht, als andere Bereiche. Die Idee dieser Akademie ist ja im Grunde genommen einfach der Kapitalismus weitergesponnen für den Kunstmarkt, verbunden mit der Geldgier der Eltern - alles Dinge, die es im Kleinen ja schon gibt (z.B. diese furchtbaren Schönheitswettbewerbe für kleine Kinder in den USA).

      Ich freu mich sehr, dass das dich mein Beitrag angesprochen hat! :)

      Liebe Grüße!
      Katharina

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  3. Das Thema ist ein wirklich sehr interessantes, aus diesem Blickwinkel habe ich den Kunstmarkt auch noch nie betrachtet... Spannend! Aber wie du auch schon schreibst, die emotionale Ebene ist mir bei Büchern auch enorm wichtig. Schade dass das da so verloren ging, ansonsten wäre es wohl ein wirklicher Bestseller geworden.
    Liebst,
    Liz. http://lizinview.blogspot.co.at/

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    1. Hallo Liz,

      ja, nicht wahr? Eine super tolle Idee, die der Autor da umgesetzt hat.

      Ich habe generell einen großen Anspruch, wenn es um die Tiefe von Figuren geht. Trotzdem ist es immer noch ein sehr interessantes Buch, das es sich in jedem Fall lohnt zu lesen. :)

      Einen kleinen Hype gab es um das Buch schon, aber ich glaube, dass es eben doch Europa nicht ganz so anspricht als die USA, wo der Autor herkommt, weil es hier dann eben doch noch ein klein wenig (wenn auch nicht mehr viel) anders läuft. ;)

      Danke für deinen Kommentar! <3
      Liebe Grüße und noch einen schöne Woche!
      Katharina

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  4. Liebe Katharina.. du hast so eine klasse Art auf Eurem Blog zu berichten und das Buch klingt für mich trotzdem sehr interessant.. hmm vlt muss ich mir das auch mal zulegen.
    Von diesem Verlag liebe ich aber zb. die Dürrenmatt Büche (Der Besuch der Alten Dame zb) richtig klasse... kann ich dir nur ans Herz legen.
    Hab einen wunderschönen Sonntag :)
    glg tina von
    www.beautiful-way-of-life.blogspot.de

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    1. Tina! <3

      Hach, du bist großartig, ich danke dir so für das Kompliment! Ich bin mir ja immer sehr unsicher, wie ausführlich ich hier schreiben soll und welche Themen überhaupt in welcher Mischung gehen (aber ich kann eben einfach nicht anders/kürzer ;)). Darum finde ich es großartig, dass dich der Beitrag interessiert hat!

      Es lohnt sich unbedingt, das Buch trotzdem zu lesen, weil es auch sehr leicht geschrieben ist.

      Die Diogenes-Bücher sind schon richtig toll. Den Stil mag ich gerne. Dürrenmatt - ist notiert!

      Alles Liebe für die Woche!
      Katharina

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